Er baute den ersten Röhrenverstärker und hat der Festkörperphysik gewisse Zonen aufgeprägt.
Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Thomas Raggi, Jimi Hendrix, Muddy Waters und dem Gesuchten: jene Kisten auf der Bühne, die das leise Pling‐Pling einer E‐Gitarre in diesen genialen akustischen Mix aus Hundejaulen, Motorrad und Holzfräse verwandeln. Zusammen mit einem Kollegen baut der Gesuchte zwanzig Jahre vor der ersten E‐Gitarre den ersten Röhrenverstärker – und denkt dabei überhaupt nicht an Musik, sondern an Radiowellen und das Krachen von Bomben und Granaten. Schließlich herrscht gerade der Erste Weltkrieg. Es ist einer der seltsamen Zufälle der Geschichte.
Gar kein Zufall ist, dass der Mann überhaupt als Physiker im Labor steht, denn der Vater ist Professor für theoretische Physik, Opa und Uropa sind ebenfalls vom Fach. So kann der Gesuchte einen Warmstart in der Physik hinlegen, lernt aus Lehrbüchern seiner Großeltern und hört Vorlesungen bei Henri Poincaré, Paul Langevin, Albert Einstein und Marie Curie. Letztere findet er übrigens „extrem langweilig": „Sie hielt ihre Vorlesung in einem sehr monotonen Tonfall, sehr leise, alles auf dem gleichen Niveau. Außerdem war die Vorlesung um ein Uhr, direkt nach dem Mittagessen. Nach ein paar Minuten waren alle eingeschlafen." Privat kennt der Gesuchte die Curies schon seit seiner Kindheit – das Ferienhaus seiner Eltern steht unweit des Wohnhauses der Curies, die Familien treffen sich oft in der Bahn.
Bei Arnold Sommerfeld in München, ebenfalls ein Bekannter seines Vaters, erforscht er dann die Streuung von Licht in Kristallen und Flüssigkeiten, publiziert mehrere Arbeiten dazu und beginnt, an seiner Dissertation zu schreiben. Doch dann bricht der Weltkrieg aus, und der Physiker entwickelt als Soldat besagte Radio‐Röhrenverstärker mit, die Funkübertragungen auch im Schlachtenlärm akustisch verständlich machen sollen. Erst nach dem Krieg kramt er dann seine Notizen zur Dissertation wieder hervor. „Doch sie ergaben keinen Sinn. Ich konnte kein einziges Wort der Notizen verstehen, die ich fünf Jahre zuvor gemacht hatte. Kein einziges Wort!", erzählt er später in einem Interview. „Ich wusste zwar, an welchen Hauptgedanken ich gearbeitet hatte, aber ich konnte die Diskussion nicht mehr rekonstruieren – die Notizen waren zu kurz. Also musste ich sie komplett neu aufbauen. Das kostete mich ein ganzes Jahr."
Danach lehrt er an der École Supérieure d'Electricité, hält dort Vorlesungen über Radiotechnik, wird Professor für theoretische Physik an der Université de Paris und einer der führenden Experten zu Streuung und Brechung elektromagnetischer Strahlung in Festkörpern. Er entwickelt unter anderem das Konzept gewisser Zonen, die heute nach ihm benannt sind. Es sind symmetrische Polyeder in sogenannten reziproken Kristallgittern, mit deren Hilfe man den Kristallimpuls von Teilchen oder Quasiteilchen beschreiben kann. Kollegen, die in derselben Richtung forschen – Bragg, de Broglie, Debye oder Compton zum Beispiel – trifft er wie schon sein Vater regelmäßig auf den berühmten Solvay‐Konferenzen. Und als er später an das Collège de France wechselt, tritt er ebenfalls in väterliche Fußstapfen.
Doch dann kommt der Zweite Weltkrieg, und der Gesuchte wagt einen großen Schritt: Er wandert in die USA aus. Inhaltlich macht er aber da weiter, wo er in Europa aufgehört hat: im Bereich Radiowellen und Radar, als Professor für angewandte Mathematik in Harvard, an der Columbia University und bei IBM. Nur wenige Wochen vor dem Tod des Physikers vernichtet Jimi Hendrix in Woodstock die amerikanische Nationalhymne in den Maschinengewehr‐Salven seiner E‐Gitarre; der Gesuchte hat die musikalische Revolution davor wohl nicht einmal mit halbem Ohr verfolgt.
Der gesuchte Theoretiker war Sir Edmund Taylor Whittaker (1873–1956).
By Andreas Loos
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