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Éva Knapp

Gábor Tüskés, Litterae Hungariae. Transformationsprozesse im europäischen Kontext. 16.–18. Jahrhundert (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster Reihe XII, 20) Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2018. 592 S., € 38,–
In: Arbitrium, Jg. 38 (2020-12-01), S. 297-300
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Éva Knapp / Gábor Tüskés, Litterae Hungariae. Transformationsprozesse im europäischen Kontext. 16.–18. Jahrhundert (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster Reihe XII, 20) Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2018. 592 S., € 38,– 

Éva Knapp / Gábor Tüskés, Litterae Hungariae. Transformationsprozesse im europäischen Kontext. 16.–18. Jahrhundert (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster Reihe XII, 20) Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2018. 592 S., € 38,–.

Es ist in jedem Fall ein wichtiges Ereignis der ungarischen Literaturwissenschaft, wenn ein 600 Seiten starker Band über hungarologische Themen in deutscher Sprache erscheint – auch wenn die beiden Autoren als hervorragende Kenner des ungarischen Barock, der neulateinischen Kultur in Ungarn beziehungsweise der deutsch-ungarischen Literaturverbindungen im deutschsprachigen Diskurs längst bekannt sind. Dem vorliegenden Band Litterae Hungariae geht unmittelbar die Aufsatzsammlung Germania Hungaria litterata. Deutsch-ungarische Literaturverbindungen in der frühen Neuzeit (2008) voraus, aber auch die früheren internationalen Publikationen des Autorenpaares sind demselben Themenkomplex gewidmet (Volksfrömmigkeit in Ungarn [1996], Gábor Tüskés' Monographie über Johannes Nádasi. Europäische Verbindungen der geistlichen Erzählliteratur Ungarns im 17. Jahrhundert [2001] bzw. Emblematics in Hungary [2003]). Nimmt man noch die von Gábor Tüskés mitherausgegebenen Sammel- und Konferenzbände dazu, die ebenfalls die deutsch-ungarischen Literaturverbindungen der frühen Neuzeit behandeln, Dieter Breuer / Gábor Tüskés (Hgg.), Das Ungarnbild in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Der Ungarische oder Dacianische Simplicissimus im Kontext barocker Reiseerzählungen und Simpliziaden. Bern u. a. 2005; Wilhelm Kühlmann / Gábor Tüskés (Hgg.), Militia et litterae. Die beiden Nikolaus Zrínyi und Europa. Tübingen 2009; Dieter Breuer / Gábor Tüskés (Hgg.), Fortunatus, Melusine, Genofeva. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Bern u. a. 2010; Gábor Tüskés (Hg.), Literaturtransfer und Interkulturalität im Exil. Das Werk von Kelemen Mikes im Kontext der europäischen Aufklärung. Bern u. a. 2012; Dieter Breuer / Gábor Tüskés (Hgg.), Aufgeklärte Sozietäten. Literatur und Wissenschaft in Mitteleuropa. Berlin – Boston 2019. Einige der Aufsätze des vorliegenden Bandes erschienen zuerst in diesen Konferenzbänden. konturiert sich ein jahrzehntelanges Forschungsprogramm, das eine Neukontextualisierung der Literatur des ungarischen Barock durch Erschließung der internationalen, vornehmlich deutschen Bezüge beziehungsweise durch eine Erweiterung der philologischen Arbeit mit kultur- und religionsgeschichtlichen Perspektiven anvisiert.

Der Band Litterae Hungariae bietet eine Auswahl von insgesamt 17 Aufsätzen der beiden Autoren aus den letzten zwei Jahrzehnten und ordnet sie in fünf thematische Kapitel. Es ist also ein systematisches, aber kein enzyklopädisches Werk, kein Handbuch, wie es etwa der Umfang und der allgemein formulierte Titel vermuten lässt, sondern eine Aufsatzsammlung, die Einblicke in die wichtigsten Themenbereiche und Fragenkomplexe der aktuellen Forschung der neuzeitlichen Literatur in Ungarn und in die damit eng zusammenhängende philologische Arbeit gewährt. Der Titelbegriff Litterae Hungariae steht gewissermaßen für dieses neuere Forschungsinteresse an der Literatur des Barock in Ungarn: Im 16.–18. Jahrhundert sind eben die kulturellen Umwandlungen, Impulse, Symptome, Experimente oder – wie im Untertitel – „Transformationen" zu beobachten, die, noch bei der Vorherrschaft der lateinischen Schriftlichkeit, die Ausbildung und Institutionalisierung der „nationalen Literatur" im 18.–19. Jahrhundert prädiziert und somit begründet haben. Um diese Transformationsprozesse richtig verstehen zu können, muss die Forschung die Gesamtheit der kulturellen Produktion überblicken, den traditionell als Randerscheinungen abgestempelten Gattungen und Gebieten eine neue Beachtung schenken, die Anwendbarkeit der modernen Terminologie überprüfen und die ungarischen Ereignisse in den europäischen Kontext einbetten. Die fünf Kapitel des Bandes sind als fünf unterschiedliche Annäherungsweisen zu diesem Fragenkomplex zu verstehen.

Kapitel 1 ist den deutsch-ungarischen Literaturverbindungen gewidmet. Zwei Aufsätze befassen sich mit den ungarischen Übersetzungen der Fortunatus-Geschichte beziehungsweise des sogenannten Gertrudenbuchs von Martin von Cochem. Fortunatus wurde in zwei unabhängigen Fassungen, einmal in Versform, einmal in Prosa ins Ungarische übertragen (1578/1583 bzw. 1651); ein aufmerksamer Vergleich verrät viel über die literarische Kultur des damaligen Ungarns. Genauso liefert eine komparative Untersuchung der Gebetsliteratur, hier am Beispiel der Verbreitung des Gertrudenbuchs in Ungarn, nicht nur konfessions-, sondern auch wichtige lyrikgeschichtliche Einsichten. Der Aufsatz über den Ungarischen Oder Dacianischen Simplicissimus eröffnet eine andere Perspektive auf die Literaturverbindungen: Der 1683 entstandene Text ist ein satirischer Reiseroman, eine sogenannte Simpliziade, die durch ihre abenteuerliche Handlung ein umfassendes und zugleich detailliertes Bild vom damaligen Ungarn beziehungsweise vom ungarischen Volk zeichnet. Der vierte Aufsatz zeigt, nach einer einleuchtenden Einführung in die Historia litteraria-Forschung, am Beispiel der Familie Burius (János der Ältere bzw. János der Jüngere), des Dávid Czvittinger, des Mihály Rotarides und des Martin Schmeizel, wie die Anfänge der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung, die größtenteils auf deutschem Gebiet entstanden ist, vom deutschen kulturellen Kontext beeinflusst waren.

Die im Kapitel 1 exemplarisch vorgeführte komparative Perspektive wird in den weiteren Kapiteln des Bandes fortgesetzt und erweitert. Kapitel 2 mit dem Titel „Neulateinische Literatur" befasst sich mit der ungarischen Rezeption der Werke des Theologen und Rhetoriklehrers Matthaeus Tympius, mit den – eigentlich durchaus praktisch, als stilistische Anleitungen gemeinten – ‚Brieftheorien' im ungarischen Jesuitenunterricht und mit Schuldramen der ungarischen beziehungsweise deutschen Jesuitenbühne, die sich von der ungarischen Geschichte inspirieren ließen. Themen, die einerseits einen komparativen, deutsch-ungarischen Forscherblick voraussetzen, andererseits auf einige von der Literaturgeschichte weniger beachtete Gattungen aufmerksam machen, die zu dieser Zeit maßgeblich zur Entstehung einer autonomen Schriftkultur beigetragen haben.

Kapitel 3 enthält Aufsätze zur visuellen Kultur des ungarischen Barock, was wiederum eine Möglichkeit zur kulturwissenschaftlichen Erweiterung der auf Schriftlichkeit fokussierten Forschungsperspektive andeutet. Auch in diesem Fall wird die visuelle Kultur des Barock und ihr Verhältnis zur Literatur auf unterschiedlichen Wegen angesteuert: Die Aufsätze stellen die Lyrik von János Rimay – ein bedeutender Dichter des ungarischen Manierismus – mit Blick auf die bildlichen Vorlagen seiner Gedichte vor; sie analysieren die Emblematik des Freskenzyklus der Prunkstiege vom Raaber Jesuitenkolleg, überblicken die gesamte Ikonographie des Barockdichters und Feldherren Miklós Zrínyi und geben abschließend eine übergreifende Einführung in die Jesuitenemblematik.

Im Kapitel 4 „Erzählforschung" findet sich neben zwei Fallstudien (die eine erschließt neue Quellen des Prosawerks von Kelemen Mikes, die andere untersucht das erste Mirakelbuch von Mariatal aus dem Jahr 1661 und seine ungarische Wirkungsgeschichte) eine forschungsgeschichtliche Studie zur Erzählliteratur im Umfeld der Reformation, der einzige Beitrag des Bandes, der kein bestimmtes Werk oder Werkgruppe darstellt, sondern ein breiteres Feld in den Blick nimmt. Gábor Tüskés stellt hier die Positionen der historischen Erzählforschung der letzten Jahrzehnte in Deutschland wie in Ungarn dar und plädiert für eine systematisch komparatistische Vorgehensweise, denn „eine systematische Zusammenarbeit der nationalen Philologien und der Komparatistik" sei bei der historischen Erzählforschung „unumgänglich" (S. 442) – ein gut begründeter Anspruch, den der Band Litterae Hungariae beispielhaft zu erfüllen scheint.

Kapitel 5 beschäftigt sich mit der Literatur und Kultur der neuzeitlichen Frömmigkeitspraxis; hinsichtlich des Aufbaus wiederholt sich hier das Modell des vierten Kapitels, indem zwei „Fallstudien" von einem allgemeineren, überblickenden Beitrag ergänzt werden. Zunächst wird eine bestimmte Form der Marienverehrung untersucht, die Maria als Landespatronin auffasst. Entsprechende Traditionen begegnen vielerorts im neuzeitlichen Europa, besonders stark ausgeprägt sind sie in Bayern und in Ungarn; daher ist die Marienverehrung ein idealer Gegenstand für eine weitreichende, historisch-komparative Untersuchung der Frömmigkeitsformen. Die Darstellung vom Leben und Werk Odo Koptiks – eines Pastors und Theologen des 18. Jahrhunderts, der von Österreich nach Ungarn kam, um dort unterschiedlichen pastoralen Aufgaben nachzugehen, zu unterrichten und bei der Etablierung mehrerer Wallfahrtsorte mitzuwirken – soll eine Umwandlung der Frömmigkeitspraxen illustrieren. Koptik als „vehementer Beschützer der auf überwiegend mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Grundlagen ruhenden Barockfrömmigkeit" wird noch zu Lebzeiten mit einem „aufgeklärten kirchlichen Geist" (S. 569) konfrontiert, der diese Frömmigkeitspraxen immer mehr in die Bereiche der Magie und des Aberglaubens einreiht und ihnen auszuweichen versucht. Der dritte Aufsatz gibt einen detaillierten Überblick über die Jesuitenliteratur und über ihr Verhältnis zur Frömmigkeitspraxis im Ungarn der frühen Neuzeit.

Die fünf Kapitel markieren also unterschiedliche thematische Schwerpunkte eines einzigen Forschungsinteresses, in dessen Fokus eine komparative und kulturwissenschaftlich erweiterte Sichtweise steht. Vorausgesetzt wird dabei die Heteronomie einer Literatur vor ihrer institutionellen Ausdifferenzierung in der Moderne. Daher sind die Erzeugnisse der damaligen Schriftkultur interdisziplinär, das heißt nicht ohne ihren jeweiligen kulturellen Kontext, ohne ihre Verbindungen zu anderen kulturellen Bereichen zu untersuchen. Dieses Forschungsprogramm basiert auf der strengen Methodologie der traditionellen Philologie; Textvarianten werden miteinander verglichen, neue Quellen werden aufgedeckt, Bibliotheksinventare durchsucht oder erstellt, die historische Figur des jeweiligen Autors, der historische Hintergrund und die Gattungs- und Institutionsgeschichte detailliert dargestellt. Überhaupt geht es den Autoren primär um Darstellung und Information; avancierte Fragestellungen und Interpretationen finden sich selten. Damit ist der Band Litterae Hungariae in erster Linie für eine deutsche Leserschaft geeignet, die sich von der neuzeitlichen Kultur in Ungarn mit Hilfe von thematisch gegliederten Einblicken, komparativen Untersuchungen und aktuellen Teilergebnissen der Forschung ein Bild machen möchte. Die Beiträge legen gründlich erschlossene kulturgeschichtliche Fakten auf den Tisch; die – literaturtheoretischen, kultur- oder konfessionsgeschichtlichen – Konsequenzen können die Leserinnen und Leser für sich selbst ziehen.

Abschließend eine kurze Bemerkung zur redaktionellen Betreuung eines 600 Seiten dicken Bandes über ungarische Literatur in deutscher Sprache. Bekanntlich sind deutsche Korrektoren gegen die atypische ungarische Rechtschreibung so gut wie wehrlos; in diesem Fall wird die Aufgabe darüber hinaus durch lateinische Zitate, komplizierte ungarische Fußnoten und altungarische Textausschnitte erschwert, die noch vor jeglicher orthographischen Regulierung entstanden sind. In dieser Hinsicht hat der Münstersche Universitätsverlag auch eine hervorragende Arbeit geleistet. Als bescheidender Beweis dafür, dass der Rezensent nicht ganz ohne Überprüfung die redaktionelle Arbeit lobt, soll hier auf die folgenden Stellen hingewiesen werden: der Name „Hunyadi" wird unregelmäßig getrennt (Hun-yadi statt Hu-nya-di, S. 227); Dávid Czvittingers Name wird mit „w" geschrieben (S. 520). Ohne Bedenken ist der Band Litterae Hungariae als Grundlage für weitere Forschungen zur frühneuzeitlichen Literatur Ungarns beziehungsweise Deutschlands zu empfehlen.

By Tamás Lénárt

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Titel:
Éva Knapp
Verantwortlichkeitsangabe: Gábor Tüskés, Litterae Hungariae. Transformationsprozesse im europäischen Kontext. 16.–18. Jahrhundert (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster Reihe XII, 20) Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2018. 592 S., € 38,–
Autor/in / Beteiligte Person: Lénárt, Tamás
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 38 (2020-12-01), S. 297-300
Veröffentlichung: Walter de Gruyter GmbH, 2020
Medientyp: unknown
ISSN: 1865-8849 (print) ; 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2020-0065
Schlagwort:
  • General Medicine
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: OpenAIRE
  • Rights: OPEN

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