In the late Middle Ages, Nicholas of Cusa renders human cognition as creative, asymptotic assimilation—humans creatively approach their objects of cognition without ever fully reaching them. Questions about measuring are an important part of Nicholas’ model of cognition in two regards: On the one hand, he explicitly calls human cognition a ‘measuring’ (
Nicholas of Cusa, epistemology, epistemic justification, iudicium concreatum, complicatio
Hinweis Dieser Beitrag wurde vom European Research Council im Rahmen des Förderungsvertrags Nr. 637747 für das Project ‚Rationality in Perception: Transformations of Mind and Cognition 1250–1550‘ gefördert.
Die Frage nach Maß und Messen ist eine der Kernfragen jedes erkenntnistheoretischen Entwurfs. Sofern Erkennen nicht als ein Prozess gedacht wird, der notwendig erfolgreich verläuft, muss geklärt werden, wie Erkenntnisbemühungen auf ihre Korrektheit geprüft und so Erkenntnisansprüche validiert werden können. Zugespitzt: Ohne Maß, d. h. ohne Kriterium, ist Erkenntnis als methodisch abgesichertes Verfahren nicht möglich.
Nicolaus Cusanus konzipiert menschliche Erkenntnis im ausgehenden Mittelalter als kreative, asymptotische Assimilation – Menschen nähern sich auf kreative Weise ihren Erkenntnisobjekten an, können diese aber nicht gänzlich erreichen. Die Frage nach dem Maß ist mit Blick auf diese Konzeption in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einerseits bezeichnet Cusanus die Erkenntnistätigkeit von Menschen explizit als ein Messen (mensurare). Andererseits ist gerade die Frage nach dem Maß im Sinne eines Kriteriums menschlicher Erkenntnis bei Cusanus drängend. Er charakterisiert Menschen als lebendige Bilder Gottes, die als solche die Urbilder alles Seienden auf spezifisch menschliche Weise in sich tragen. Diese Urbilder sind für Menschen dasjenige, an dem sie ihr erkennendes Messen ausrichten. Im Blick darauf, wie die spezifisch menschliche Weise dieses In-Sich-Tragens von Urbildern genau zu verstehen ist, hält sich Cusanus jedoch bedeckt. Das ist problematisch – ist bei ihm keine plausible Stellungnahme zur Kriterienfrage zu finden, so droht ihm buchstäblich erkenntnistheoretische Maßlosigkeit: Messen könnte von Nicht-Messen nicht unterschieden werden, wenn es kein Maß zur Prüfung von Erkenntnisbemühungen gibt.
Nach kurzen Erläuterungen (
Ebenfalls aus Umfangsgründen beschränke ich mich auf ‚Idiota de mente‘ (kurz: ‚De mente‘) als Textgrundlage. Das bietet sich aus drei Gründen an. Erstens liefert Cusanus dort eine ausgewogenere Darstellung menschlicher Erkenntnis als in anderen Werken.[
Menschliche Erkenntnis ist mit Nicolaus Cusanus als kreative, asymptotische Assimilation zu fassen.[
In diese grobe epistemologische Skizze können nun die eingangs angesprochenen Dimensionen von Messen eingetragen werden. Zunächst stellt Cusanus das Messen ins Zentrum von ‚De mente‘, wenn er mit Blick auf die titelgebende mens humana im ersten Kapitel konstatiert: „Der Geist ist das, woraus aller Dinge Grenze und Maß stammt. Mens, der Geist, wird nämlich von mensurare, messen, her benannt“.[
Eine der Fragen, die Cusanus mit dieser Beschreibung menschlicher Erkenntnis provoziert, ist die nach einem Kriterium, anhand dessen erfolgreiche von erfolglosen Erkenntnisbemühungen unterschieden werden können. Damit ist die Überleitung zur zweiten hier diskutierten Dimension von Messen gemacht. Denn die Charakterisierung menschlicher Erkenntnis als kreative, asymptotische Assimilation zieht anspruchsvolle Rahmenbedingungen hinsichtlich der Kriterienfrage nach sich: Menschen können einerseits ihre epistemische Tätigkeit nicht hinreichend durch den Verweis auf Gegenstände rechtfertigen, die nicht vollständig erkennbar sind. Selbst wenn diese Gegenstände teilweise oder annäherungsweise erkennbar sind, so bleibt doch bei jeder diese Gegenstände involvierenden Behauptung eine unüberbrückbare Rechtfertigungslücke. Aussagen über einen Gegenstand können nicht von diesem Gegenstand her bewertet werden, wenn er nie ganz durchschaut werden kann. Weil nun laut Cusanus nichts vollständig erkennbar ist, das von der mens divina geschaffen ist, droht ein weitreichendes Rechtfertigungsproblem. Will Cusanus andererseits mehr als einen Kohärentismus plausibel machen, in dem Menschen nur über die von ihnen selbst geschaffenen Begriffe und Begriffsumgebungen rechtfertigbare Aussagen tätigen können, braucht er dringend ein Erkenntniskriterium.
Einen Erklärungsansatz bezüglich der Kriterienfrage bietet Cusanusʼ Beschreibung von Menschen als ‚Einfaltungen‘ (complicationes) mit anerschaffener Urteilsfähigkeit (iudicium concreatum).[
Ich beginne mit dem iudicium concreatum, das in ‚De mente‘ im Rahmen einer Stellungnahme zu aristotelischen und platonischen Umgangsformen mit Ideen eingeführt wird. Cusanus lehnt zunächst ein platonisches Modell anerschaffener Ideen ab, welche die Seele im Leib verloren habe und an die sie sich dann wiedererinnern müsse. Auch einem aristotelischen tabula-rasa-Modell stimmt er jedoch nicht uneingeschränkt zu. Am platonischen Modell kritisiert er, dass der Leib darin zum Hindernis degradiert werde; am aristotelischen, dass ein völlig unbeschriebenes Blatt in seinen Erkenntnisbemühungen in Halt- und damit Maßlosigkeit abrutsche.[
Weil unser Geist indessen nicht vorankommen kann, wenn ihm jedes Urteil fehlt [...], deshalb hat unser Geist eine ihm anerschaffene Urteilsfähigkeit, ohne die er keine Fortschritte machen könnte. Diese Urteilskraft ist dem Geist von Natur aus anerschaffen. Durch sie urteilt er selbständig über Beweisgründe, ob sie schwach, stark oder schlüssig sind.[
Cusanus stattet Menschen also mit einer Art Kompass aus, anhand dessen sie ihre Erkenntnistätigkeit bewerten können; einem Kompass, „der in unserem Geist spricht und urteilt, dies sei gut, dies gerecht, dies wahr, und uns tadelt, wenn wir vom Rechten abweichen.“[
Zwei Präzisierungen lassen sich diesbezüglich mit ‚De mente‘ machen: Erstens spricht Cusanus in den zwei Passagen, in denen das iudicium concreatum auftritt, dessen Arbeitsbereich an. In der gerade zitierten Passage ist von Elementen diskursiven Denkens – rationalen Gebilden, Schlussfolgerungen – die Rede; etwas später wird das iudicium im Kontext der Erschließung von Raum-Zeitlichem (de exterioribus) eingesetzt.[
Zumindest einen Antwortansatz liefert in dieser Hinsicht die zweite Präzisierung, die mit ‚De mente‘ möglich ist. Direkt vor der Passage, in der er das iudicium concreatum mit Urteilen über Raum-Zeitliches verbindet, spricht Cusanus das Ineinandergreifen verschiedener Erkenntnisbereiche oder -formen an:
Wie der Gesichtssinn sieht und ohne die Unterscheidungskraft, die ihn unterrichtet und erleuchtet und vollendet, nicht weiß, was er sieht, so zieht der Verstand Schlüsse und weiß ohne den Geist nicht, was er schließt, sondern der Geist unterrichtet, erleuchtet und vollendet das schlussfolgernde Denken, so dass es weiß, was es schließt [...]. So ist der Geist die unterscheidende Form der rationalen Gehalte, wie die Ratio unterscheidende Form der Sinneswahrnehmung und Vorstellungen ist.[
Bringt man diese Beschreibung mit der Liste der epistemischen Fähigkeiten zusammen, die Cusanus in ‚De mente‘ Menschen zuschreibt und als hierarchische Ordnung von Assimilationsstufen expliziert,[
Weil Cusanus nun die Beurteilung von Raum-Zeitlichem als das Schauen von Menschen auf etwas beschreibt, das in ihnen selbst liegt,[
Menschen werden von Cusanus in ‚De mente‘ als besondere complicationes charakterisiert:
Alles ist in Gott, aber dort als Urbilder der Dinge; alles ist in unserem Geist, aber dort als Ähnlichkeiten der Dinge. Wie Gott die absolute Seinsheit ist, die aller Seienden Einfaltung ist, so ist unser Geist jener unendlichen Seinsheit Bild, das aller Abbilder Einfaltung ist.[
Der Abstand zwischen göttlicher complicatio und menschlichen complicationes wird von Cusanus zwar konsequent aufrechterhalten – Menschen sind sekundäre complicationes, Gott ist die primäre oder absolute complicatio. Menschen zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie in einem ähnlichen Verhältnis zu ‚ihren‘ explicationes stehen wie der göttliche Ursprung zu ‚seinen‘.
Zwei Aspekte dessen, was menschliche complicationes ausmacht, stehen in ‚De mente‘ im Vordergrund. Sie sind erstens begriffliche und zweitens lebendige Einfaltungen. Darin, dass sie Einfaltungen von Begrifflichem im Gegensatz zu Seiendem sind, besteht der maßgebliche Unterschied zwischen Menschen und dem absoluten Ursprung: Menschen falten Begriffe von dem ein, was ist, und erkennen so Gegebenes – im Unterschied zum absoluten Ursprung, in dem ‚Seiendes erkennen‘ und ‚Seiendes schaffen‘ zusammenfallen.[
Als Einfaltungen tragen Menschen das in sich, anhand dessen das iudicium concreatum rationale Erkenntnistätigkeit bewertet.
Er [sc. der menschliche Geist] hat sie [sc. die Urteilsfähigkeit] daher, weil er das Bild des Urbildes von allem ist. Gott ist nämlich das Urbild von allem. Da das Urbild von allem im Geist wie die Wahrheit im Abbild widerstrahlt, so hat er das in sich, auf das er schaut und nach dem er ein Urteil über das Außenliegende fällt.[
Weil sie lebendige Bilder Gottes sind und als solche die Urbilder der Dinge abbildhaft in sich eingefaltet finden, können Menschen die Produkte rationaler Erkenntnistätigkeit auf ihre Angemessenheit hin bewerten, indem sie auf das schauen, was sie einfalten.
Cusanus kann also nicht vorgeworfen werden, dass er die Kriterienfrage ignorierte; er diskutiert sie zwar nicht systematisch oder ausführlich, nimmt mit der Beschreibung von Menschen als complicationes mit einem iudicium concreatum aber durchaus zur Thematik Stellung. Zu fragen ist allerdings, wie befriedigend diese Stellungnahme ist. Denn Cusanus geht nicht ins Detail, so dass es bei genauerem Hinsehen bisweilen mehr Fragen als Antworten gibt.
Die Frage, auf die ich mich hier konzentriere, lautet: Was genau ist darunter zu verstehen, dass Menschen lebendige complicationes sind? Was also falten Menschen ein? Im Blick worauf bewertet das iudicium concreatum rationale Erkenntnistätigkeit?
Cusanus selbst spricht in ‚De mente‘ – bei der Einführung des iudicium concreatum und an anderen Stellen – üblicherweise drei Theorieoptionen an: eine platonische, eine aristotelische und einen (meist harmonisierenden) Mittelweg.[
Im Rahmen der Frage danach, was unter menschlichen Einfaltungen genau zu verstehen ist, gibt es bestimmte Passagen in ‚De mente‘, denen sich jeder Interpretationsansatz stellen muss. Deshalb liste ich zunächst repräsentative Stellen auf, bevor ich die verschiedenen interpretatorischen Optionen diskutiere.
(I) Alles ist in Gott, aber dort als Urbilder der Dinge; alles ist in unserem Geist, aber dort als Ähnlichkeiten der Dinge. Wie Gott die absolute Seinsheit ist, die aller Seienden Einfaltung ist, so ist unser Geist jener unendlichen Seinsheit Bild, das aller Abbilder Einfaltung ist.[
(II) Weil nun der Geist ein gewisser göttlicher Same ist, der mit seiner Kraft aller Dinge Urbilder begrifflich einfaltet, ist er von Gott, von dem er diese Kraft hat [...], zugleich in den passenden Boden gesetzt worden, wo er Frucht bringen und aus sich die Gesamtheit der Dinge begrifflich ausfalten kann.[
(III) Darin scheint also Aristoteles der richtigen Meinung zu sein, dass der Seele keine Begriffe anerschaffen sind, die sie beim Eintritt in den Leib verloren hätte.[
(IV) Er [sc. der menschliche Geist, ck] hat sie [sc. die Urteilskraft] daher, weil er das Bild des Urbildes von allem ist. Gott ist nämlich das Urbild von allem. Da das Urbild von allem im Geist wie die Wahrheit im Abbild widerstrahlt, so hat er das in sich, auf das er schaut und nach dem er ein Urteil über das Außenliegende fällt [...].
(V) Und in dieser Assimilation [sc. der geistigen Assimilation an reine Formen, ck] verhält sich der Geist, wie wenn die Bildsamkeit losgelöst von [...] allen bildsamen Stoffen lebendig wäre in geistigem Leben, so dass sie sich durch sich selbst allen Gestalten, wie sie in sich und nicht in der Materie bestehen, verähnlichen könnte. Eine solche würde nämlich gewahr werden, dass in der Kraft ihrer lebendigen Bildsamkeit, d. h. in ihr selbst, die Begriffe von allem enthalten sind, weil sie sich allem angleichen könnte.[
(I) und (II) sind programmatische Passagen, in denen Cusanus den Einfaltungscharakter von Menschen und deren Verhältnis zur göttlichen complicatio anspricht. (III) ist die bereits diskutierte Passage, in der Cusanus das iudicicum concreatum als Mittelweg zwischen anerschaffenen Begriffen und tabula rasa einführt. (IV) verknüpft das iudicium mit der Beschreibung von Menschen als complicationes, während (V) beschreibt, wie sich der menschliche Geist im Rahmen seiner Assimilationstätigkeit selbst als ‚Ort‘ aller Begriffe erfasst.
Diese Stellensammlung zeigt die Grundspannung, mit der Interpretationsversuche im Blick darauf, was Menschen einfalten, konfrontiert sind. Einerseits lehnt Cusanus anerschaffene Begriffe ab. Andererseits bezeichnet er Menschen als Einfaltungen der Begriffe von allem, die beim Einsatz ihres iudicium auf das blicken, was sie einfalten. Wenn Menschen nun ihre rationale Erkenntnistätigkeit beurteilen, indem sie auf Begriffliches blicken, das sie einfalten – müssen dann nicht Begriffe, die ihnen laut (III) nicht anerschaffen sind, bei konkreten Erkenntnisvorgängen bereits als Orientierungsgrößen vorhanden sein? Wie könnte die Zuverlässigkeit dieser Orientierungsgrößen gewährleistet werden, wenn bei ihrem Erwerb selbst noch keine Orientierungsgrößen vorhanden sind? Kurz: Der Umgang mit (III) ist ein interpretatorisches Problem.
Zwei Interpretationslinien gibt es diesbezüglich, die jeweils in einer ‚harten‘ und einer ‚weichen‘ Variante ausgeprägt werden können: Option (1a) besteht darin, (III) und die zugehörige Textumgebung schlicht nicht zu berücksichtigen und Menschen doch anerschaffene Begriffe zuzuschreiben. Option (1b) erkennt (III) samt Textumgebung zwar an, schafft durch eine Ausdifferenzierung aber Raum für Anerschaffenes, im Blick auf das Menschen ihr iudicium einsetzen können. Option (2a) nimmt (III) beim Wort und erklärt Menschen, abgesehen vom iudicicum concreatum, als völlig ‚leer‘; jegliche Gehalte müssen erst durch Abstraktion ‚von außen‘ erworben werden. Option (2b) nimmt (III) ernst, erlaubt aber das Hervorbringen von Gehalten ‚von innen heraus‘.
Als unplausibel ausgeschlossen werden können zunächst einmal die ‚harten‘ Optionen (1a) und (2a). Nicht nur repräsentieren sie die Art von Platonismus und Aristotelismus, die Cusanus in der Umgebung von (III) und andernorts[
(1b) operiert mit einer Unterscheidung zwischen – aktual verstandenen – Begriffen und nicht-begrifflichen Gehalten. Das schafft Raum dafür, (III) gelten zu lassen und dennoch Gehalte anzusetzen, auf die sich Menschen mit ihrem iudicium beziehen können – ohne, dass sie diese Gehalte erst ‚von außen‘ erwerben müssten. Ein prominenter Vertreter dieser Linie ist Klaus Kremer :
Nicht fertige Ideen bzw. Begriffe haben wir a priori in uns, wohl aber ein gleichsam inhaltliches Material [...], durch das wir die Begriffe zur Beurteilung des in der Sinneserfahrung Begegnenden bilden.[
Die Vorteile dieser Interpretationslinie bestehen darin, dass sie erstens keine Schwierigkeiten hat, die Seinsfülle der complicatio zu erklären. Menschen sind zwar nicht mit anerschaffenen Begriffen ausgestattet, aber doch mit etwas, auf das geblickt und aus dem heraus entfaltet werden kann. Deshalb ist zweitens auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen explicationes und complicatio plausibel. Aus dem, was Menschen implizit in sich tragen, können sie eine Vielheit von explicationes begrifflich entfalten, welche die Seinsfülle ‚mens‘ auf je spezifische Weise konkretisieren, ohne sie je vollständig ausprägen zu können. Drittens gibt es auch für die Kreativitätsthese Raum – Cusanus bezeichnet die Kreativität von Menschen als begriffliche, so dass die Verbegrifflichung impliziter Gehalte als Ausdruck dieser Kreativität interpretiert werden kann. Die verschiedenen Gesichtspunkte von complicatio, iudicium concreatum und deren Verhältnis zueinander, die in (I)–(V) zum Ausdruck gebracht sind, erscheinen kompatibel.
Diese Interpretationslinie sieht sich jedoch auch kritischen Anfragen ausgesetzt. Man kann erstens fragen, was genau die impliziten Gehalte – das „gleichsam inhaltliche Material“, in Kremers Worten – sein sollen, die postuliert werden. Cusanus zufolge faltet eine complicatio alles ein, was aus ihr entfaltet sein oder entfaltet werden kann. Nachdem Menschen gemäß (I), (II), (IV) und (V) alles begrifflich entfalten können, müssen sie alles in Form einer nicht-begrifflichen ‚Materialsammlung‘ einfalten. Das klingt verdächtig nach der Behauptung eines Phantoms – ‚alles‘ soll implizit vorhanden sein, ohne dass klar wäre oder klar gemacht würde, wie das gemeint ist. Selbst wenn die Textbasis bei Cusanus als unzureichend für eine eindeutige Antwort angesehen wird, muss eine zufriedenstellende Interpretation zumindest Antwortmöglichkeiten anbieten können. Man kann in (1b) zweitens die Integration der von Cusanus betonten Kreativität und Dynamik menschlicher Erkenntnistätigkeit als bloßes Lippenbekenntnis kritisieren. Wenn er etwa in (II) davon spricht, dass der menschliche Geist in seiner oder durch seine Kraft alles begrifflich einfalte, dann wird damit nicht nur ent- sondern auch einfalten als Tätigkeit oder Aktivität beschrieben. Wenn der Geist im Rahmen von (1b) dagegen als ‚Materialsammlung‘ beschrieben wird, dann legt das ein statisches Eingefaltet-Sein von Gehalten nahe und beschränkt Aktivität und Kreativität auf die entfaltende Tätigkeit von Menschen, deren Kreativitätsgrad fraglich ist. Angesichts des Aufwands, den Cusanus in ‚De mente‘ im Sinne einer Dynamisierung menschlicher Erkenntnisprozesse betreibt, ist das ein ernstzunehmender Vorwurf. (1b) zeigt sich damit als plausible, aber nicht unproblematische Interpretationslinie.
(2b) legt den Fokus gerade auf den dynamisch-kreativen Charakter, den Cusanus menschlichen complicationes zuspricht. Diese Interpretationslinie fasst complicationes nicht als Einfaltungen im Sinne einer vorgängigen oder primären ‚Materialsammlung‘, auf die dann in einem Folgeschritt entfaltend zugegriffen würde. Stattdessen beschreibt sie sowohl rationale Erkenntnistätigkeit als auch deren ideelles ‚Anschauungsmaterial‘ als zwei Momente eines menschlichen Ein- und Entfaltungsprozesses, in dem beides, Rationales wie Ideelles, erst hervorgebracht wird. In dieser Hervorbringung manifestiert sich eine Kreativität in emphatischem Sinne, die weder vorgängiger Gehalte in der mens humana noch von außen zugetragener Gehalte bedarf. Nimmt man ernst, dass Cusanus in ‚De mente‘ Menschen als lebendige Bilder der göttlichen Schaffenskraft beschreibt,[
Arne Moritz stellt durch seine Darstellung von complicatio und explicatio wesentliche Teile des Fundaments dieser Interpretationslinie zur Verfügung. Auf der Basis einer Liste von Merkmalen, die er anhand dreier cusanischer Texte entwickelt,[
Es schien so als sei mit der Rede von der mens als imago complicationis dei ein ‚Wesen des Geistes‘ gemeint, eine ‚Ursprungseinheit‘, in der die ‚Erkenntnisinhalte schon implizit enthalten sind‘, woraus sie im explikativen Prozess hervorgebracht werden. ‚Die Analogie zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Geist‘ schien nur darin zu bestehen, ‚dass beide die Totalität des von ihnen Hervorgebrachten schon in sich enthalten und dass beide der aktive Ursprung dessen sind, was aus dieser Totalität hervorgeht.‘ Auch bei der mens schien der Gedanke eine vorgängige ‚Potentialität der Komplikation‘ und die ‚Aktualität ihrer Explikation‘ zu bezeichnen.[
Versteht man mit Moritz den menschlichen Geist als etwas, das sich in Entfaltungsprozessen zu Gehalten sinnlich-rationaler wie geistiger Art verdichtet und sich so als complicatio realisiert, dann sind (I)–(V) ebenfalls kompatibel. Denn Cusanus behauptet nirgends, dass Menschen Gehalte, seien sie nun expliziter oder impliziter Art, in irgendeiner Form vorgängig bereits mitbringen. Zusätzlich zu der Tatsache, dass (2b) den cusanischen Kreativitätsgedanken stark machen kann, sieht sich die Interpretationslinie gar nicht erst mit der Notwendigkeit konfrontiert, mit vorgängigen impliziten Gehalten ein epistemologisches ‚Phantom‘ postulieren zu müssen.
Auch (2b) ist allerdings kritisch zu befragen. Vorwürfen, Menschen würden hier mit zu weitreichenden Schaffenskräften ausgestattet, muss man nicht begegnen. Denn solange Menschen nur epistemisch und nicht ontisch schaffen, ist das für Cusanus kein Problem, sondern gerade Ausdruck der Darstellung der mens humana als Bild der göttlichen Schaffenskraft. Ernstzunehmen ist dagegen der Einwand, (2b) vernachlässige die Abhängigkeit der explicationes von ihrer jeweiligen complicatio, wenn – was die Interpretationslinie zu ermöglichen scheint – Sinnlich-Rationales hervorgebracht wird ohne die zugehörige geistige complicatio; etwa eine Behauptung über diesen Drachenbaum auf meinem Schreibtisch, ohne dass ‚Drachenbaum‘ als Orientierungsgröße hervorgebracht wäre. Ebenfalls ernstzunehmen ist schließlich der Vorwurf, (2b) könne die Seinsfülle der complicatio ‚Mensch‘ nicht plausibel machen. Denn wenn sinnlich-rationale wie geistige Hervorbringungen ohne Rückgriff auf bereits Vorhandenes hervorgebracht werden, scheint die Charakterisierung der mens humana als komplikative Seinsfülle ebenso phantomhaft wie das Ansetzen eines nicht-begrifflichen ‚Alles‘.
Sowohl von (1b) als auch von (2b) aus kann den je angeführten Kritikpunkten dabei durchaus begegnet werden. Aus Umfangsgründen kann ich das hier allerdings nicht unternehmen. Ich belasse es deshalb bei einigen abschließenden Hinweisen. Erstens ist festzuhalten, dass auch die plausibleren Interpretationsversuche hinsichtlich der Frage, was eine menschliche complicatio genau einfalte und woran sich ihr iudicium orientiere, mit substantiellen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Cusanus äußert sich nicht klar genug für eindeutige Urteile oder gänzlich zufriedenstellende Antworten, so dass Interpretationsansätze hinsichtlich der hier diskutierten Fragen bis zu einem gewissen Grad genau das bleiben müssen: Ansätze. Es ist zwar unbestreitbar, dass Messen für Cusanus eine zentrale epistemologische Rolle spielt. Wie dieses Messen genau zu verstehen ist, bleibt unter den hier diskutierten Gesichtspunkten aber fraglich. Zweitens scheint mir angesichts von ‚De mente‘ eine dynamische Interpretation menschlicher Erkenntnistätigkeit und damit verbunden dessen, was unter einer complicatio zu verstehen ist, sinnvoll. Cusanus legt zu viel Wert auf den Kraft- und Tätigkeitscharakter der mens humana, als dass statische Interpretationsmodelle dem Text gerecht würden. Das legt nahe, sich der Problemlage eher von (2b) aus zu nähern. Man könnte (1b) – das wäre Teil der Strategie, den Einwänden entgegenzutreten – zwar dynamischer ausdeuten; (1b) bedient aber tendenziell Interpretationsreflexe neuplatonischer Provenienz, die zu einer Eingliederung von Cusanus in die entsprechende Tradition ohne unvoreingenommenes Durchdenken seiner Aussagen führen können. Um ‚De mente‘ in seiner Eigenheit ernstzunehmen, halte ich (2b) interpretationsstrategisch deshalb für den besseren Ausgangspunkt.
Kann Cusanus der epistemologischen Maßlosigkeit entgehen, die ihm angesichts eines möglicherweise unzureichenden Kriteriums menschlicher Erkenntnis droht? Die Antwort auf diese Frage fällt, wie deutlich wurde, zwiespältig aus. Cusanus erliegt nicht epistemologischer Maßlosigkeit in dem Sinne, dass er die Frage nach einem Kriterium menschlichen Erkennens – Messens, in seiner Terminologie – entweder ignorierte oder grundsätzlich nicht beantworten könnte. Indem er Menschen in ‚De mente‘ mit einem anerschaffenen iudicium ausstattet, das sinnlich-rationale Erkenntnisvorgänge mit Blick auf das bewertet, was Menschen als lebendige Bilder der göttlichen Schaffenskraft einfalten, sichert er diese sinnlich-rationalen Vorgänge kriteriell ab. Dass er dabei weder besonders detailscharf vorgeht noch die Fragen, die diese Absicherung aufwirft, diskutiert, stellt interpretatorische Zugriffsversuche allerdings vor Probleme. Die beiden Zugriffsvarianten, die hier diskutiert wurden, ringen mit derselben Frage: Was genau ist es, das Menschen einfalten? Tragen Menschen implizit Gehalte in sich, die dann begrifflich entfaltet werden können? Oder realisieren Menschen gerade dadurch ihr Potential als complicationes, dass sie – ohne das Vorhandensein impliziter Gehalte – kreativ explicationes hervorbringen?
Mehr als eine Erläuterung des Problems und Ansätze zum Umgang damit kann ich hier nicht liefern. Aufbauend auf die erzielten Resultate bestünden die nächsten Schritte nun darin, die plausiblen Interpretationsvarianten zunächst eingehender zu prüfen und dann über ‚De mente‘ hinaus ihre Kompatibilität mit den cusanischen Texten zu untersuchen.
By Christian Kny